Stellungnahme 09.10.2019: Offensive gegen Rojava

Erneut haben die USA am vergangenen Sonntagabend, wie schon zuletzt am 20. Dezember 2018, angekündigt, ihre Soldat*innen aus Syrien abzuziehen. Das Weiße Haus verkündete in diesem Zuge, nicht länger einer türkischen Offensive in Nordsyrien im Weg zu stehen, und machte somit nun endgültig, wie schon lange befürchtet, den Weg für eine direkte Konfrontation zwischen der Türkei und der kurdischen Bevölkerung frei.

Daraufhin brachten sich umgehend die Türkische Armee und die protürkischen Rebell*innen der Freien Syrischen Armee für eine erneute Großoffensive wie damals gegen die kurdische Enklave Afrin in Stellung und bombardierten direkt am Montagabend Grenzgebiete zwischen Syrien und dem Irak. Ziel bei diesem Angriff sollte wahrscheinlich eine Verhinderung der Truppen- oder Nachschubverlegung der kurdischen YPG sein.
Anders als noch im Dezember 2018 blieb es nicht beim Säbelrasseln gegen die kurdische Bevölkerung. Genau in diesem Moment greifen türkische und syrische Soldat*innen unter dem Deckmantel der Terrorabwehr und der Erschaffung eines Sicherheitskorridors, angeblich um die Rückkehr syrischer Flüchtlinge aus der Türkei zu erleichtern, kurdische Stellungen östlich des Euphrats an.
Trotz des erbitterten Widerstands auf kurdischer Seite belagern immer mehr Soldat*innen, unterstützt von Spezialkommandos und Luftwaffe, den nordöstlichen Teil Syriens mit dem Ziel, vor allem Rojava zu stürzen und die kurdische Bewegung zurückzudrängen. Die ersten verzweifelten Menschen fliehen bereits aus ihren Orten oder werden zum Opfer der Flugzeuge und Haubitzen.
Wir werten dieses Vorgehen als eindeutigen Überfall auf die kurdische Bevölkerung und die selbstverwalteten autonom erschaffenen Gebiete und Gesellschaften. Gerade in diesem Teil von Syrien hatte sich die kurdische Miliz, allen voran die YPG und YPJ, im Kampf gegen den Islamischen Staat engagiert und an der Seite der USA seine Bastionen zerschlagen. Nun sind diese Gebiete von selbstverwalteten Strukturen geprägt und dienen als Rückzugsort vor der jahrzehntelangen Diskriminierung durch den syrischen Staat.
Außer Frage steht, dass dieses Vorgehen revolutionäre Errungenschaften stark bedroht und Bemühungen, die in den letzten Jahren im Kampf gegen den IS erzielt wurden, gefährdet. An erster Stelle steht jedoch für uns der Fakt, dass Donald Trump mit dem Rückzug der US-amerikanischen Truppen seine vermeidlichen Verbündeten, „die Kurd*innen“, im Stich lässt und dem türkischen Präsidenten Erdoğan den Weg freimacht, um seinen Krieg gegen unsere kurdischen Genoss*innen auszudehnen und weiterzuführen.
Auch wenn Donald Trump unter dem Druck der Öffentlichkeit mit drastischen Konsequenzen der Türkei gegenüber droht und floskelbehaftet davon spricht, dass bei einem Einmarsch in Nordsyrien nicht über „die Stränge geschlagen“ werden darf und keine „Tabubrüche“ toleriert würden, bleibt es Verrat an unseren Genoss*innen und fadenscheiniges Handeln in einem Konflikt, der klare Positionierung aller erfordert.
Desweiteren zeigt ein Blick auf die angrenzenden Länder die möglichen weitreichenden Folgen, die über die syrischen Grenzen hinausgehen. Die mit der Offensive verknüpfte entstehende Gefahr für Israel ist nicht zu unterschätzen und könnte durch eine Veränderung der Machtverhältnisse den engen Verbündeten Assads, wie Russland und dem Iran, in die Karten spielen. Sobald Syrien eine Brückenfunktion einnimmt und es vor Ort keine Gegenwehr mehr gibt, steigt die Wahrscheinlichkeit einer Offensive gegen Israel ungemein.
Das kommt für die progressiven kurdischen Kräfte zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt, da sie ihre Kräfte gerade im Osten im Kampf gegen die letzten IS-Stützpunkte braucht, im Norden die Türkei einmarschiert, und weiter westlich syrische Streitkräfte versuchen, den Kurd*innen die hart erkämpften Gebiete wieder zur entreißen.
Das bedeutet für uns: Wir müssen auch in Deutschland gegen den Versuch, die kurdischen Gebiete zu zerschlagen, aktiv werden! Gerade die indirekte Unterstützer*innenrolle des deutschen Staates ist in diesem Konflikt für uns relevant, denn wir leben in einem Land, wo die deutsche Regierung Erdoğan beim letzten Staatsbesuch mit offenen Armen empfangen hat und ihn mit deutschen Panzern, Fahrzeugen und Gewehren ausgerüstet hat, um der Türkei im Kampf gegen Kurdistan Rückendeckung zu geben.
Ein weiteres Beispiel dafür ist der erst letzte Woche durchgeführte Besuch des deutschen Innenministers Horst Seehofer in Ankara. Auch wenn Seehofer offiziell, um sein Gesicht zu wahren, den Plänen der Offensive gegen Nordsyrien eine Absage erteilte, ist es doch sehr bezeichnend, dass bei seinen Gesprächen mit Präsident Erdoğan lieber über die Ausgestaltung der Migrationsabwehr gesprochen wurde, als über Menschenrechtsverletzungen oder den Umgang mit Afrin zu verhandeln.
Lasst uns für unsere kurdischen Genoss*innen einstehen und zeigt eure Solidarität!
Geht auf die Straßen, beteiligt euch an Protestaktionen und äußert eure Wut darüber!

RISE UP FOR ROJAVA! – Jin, Jiyan, Azadî!

 

Bildquelle: Rojava Solidarity Worldwide (Facebook)